Internationale Tagung anlässlich des 3. Alumnitreffens des Herzog-Ernst Stipendienprogramms der Fritz-Thyssen-Stiftung
Eröffnungsvortrag ( 10.7.2017)
Irina Podgorny: Scharlatan-Netzwerke: Die unglaubliche Geschichte von der einfältigen Sultanin Deldir und ihrem Commandatore Bennati
Gabriel García Márquez setzte Südamerikas Scharlatanen in seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit ein wunderbares Denkmal. Sie brachten Wissen in entlegenste Regionen des Kontinents, und sie verführten mit diesem Wissen. Das Phänomen ist von Europa indes nicht wegzudenken, wie Irina Podgorny in ihrer Schicht um Schicht tiefer dringenden Ergründung des reisenden Arztes und Gründers eines Wandermuseums Guido Bennati offenlegte. Ihr Protagonist, der sich in eigenen Publikationen jedes Verdachts der Scharlatanerie zu entheben hoffte, geizte nicht mit Zeugnissen seines Renommees, und er konnte dabei europäische Referenzen aufweisen, die der Nachprüfung durchaus standhalten, dabei jedoch nicht immer auch schon an wissenschaftlicher Seriosität gewinnen: Manche großartig klingende Mitgliedschaft ließ sich in Form eines abgelegten Ordens auf einem Markt erwerben. Manches Empfehlungsschreiben war ein wohlklingendes Gefälligkeitswerk. Der Scharlatan entwickelte Züge eines Typus und eines eigenen zeittypisches Berufs, der sich in den verschiedenen Nationen des 19. Jahrhunderts eigener Modalitäten des Seriösen und Respektablen bediente. Die Reisetätigkeit und das Netzwerken kommen ebenso hinzu wie eine innovative Nutzung der Presse. Quacksalber und Marktschreier, die mit Geschicklichkeiten und vermeintlichen Geheimnissen aufwarteten, waren an dieser Stelle Teil eines tieferen europäischen Traditionsgefüges.
Geht man den Fäden nach, eröffnen sich Netzwerke des Halbseidenen. So erwarb Bennati die Mitgliedschaft in einem Orden, den eine „falsche“ indische Prinzessin gründete, die man wohl aus heutiger Sicht ebenso als Hochstaplerin bezeichnen könnte. Das Exotische macht Geschmack, schafft Öffentlichkeit und entzieht sich der Verifikation. Die so genannte Sultanin Alina Deldir wurde angeblich als junges Mädchen von Indien nach Frankreich entführt und dort von Marie Antoinette und König Ludwig XVI. aufgezogen. Um sich auch nach der Französischen Revolution zu finanzieren, fälschte sie Diplome und Auszeichnungen und gründete einen Orden, dessen Medaillen sich noch nach ihrem Tod als intellektuelle Schmuckstücke erwerben ließen. Mit diesem Renommee ließ sich agieren. Bennati gründete noch ein Krankenhaus in Argentinien und erlangte im Verlauf eine Approbation als Arzt in Bolivien.
Bildreich wies Irina Podgorny nach, dass das Leben der Scharlatane sich auf einer Parallelebene des Wissens abspielte, ohne dass die Unterscheidung zwischen „Facts“ und „Fiction“ immer klar würde. Scharlatane trugen maßgeblich zur Popularisierung der Wissenschaften bei. Sie machten gesellschaftliche Spielregeln des wissenschaftlichen Renommees sichtbar. Den Scharlatan als Gegner der Wissenschaften zu diffamieren, dürfte daher eine verkürzte Wahrnehmung sein. Scharlatane dringen zwar in die Welt der Gelehrten ein, doch verlaufen die Grenzen zur Seriosität gerade in der historischen Perspektive fließend. Scharlatane waren immer wieder Lügner, doch gleichzeitig Agenten der Zirkulation der Dinge und des Wissens. Ihre Öffentlichkeit war innovativ. Sie drangen in Medien ein und überschritten dabei regelmäßig Grenzen hinein in Grauzonen der Seriosität – in Täuschungsmanövern, doch nicht minder in einer ganz offenen Feier des Spektakulär-Dubiosen.
(ft, os)
Irina Podgorny: A charlatan’s album: cartes-de-visite from Bolivia, Argentina and Paraguay (1860-1880).
11.7.2017
Markus Meumann, Iris Schröder: Einführung in das Tagungsthema
Mit einigen aktuellen Gedanken zum Phänomen der Hochstapelei führte Markus Meumann eingangs zum Tagungsthema hin. Gibt man bei Google den Begriff „Hochstapler“ ein, erzielt man ca. 816.000 Treffer. Wenig überraschend wird der Begriff dabei in sehr vielen verschiedenen Bedeutungen und Kontexten verwendet. Beispielsweise genießt der ehemalige Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg wegen der Plagiatsvorwürfe zu seiner Dissertation den Ruf, ein Hochstapler zu sein. Dabei war sein Titel zunächst ja rechtmäßig erworben, der Vorwurf der Hochstapelei dürfte daher eher im Zusammenhang mit Guttenbergs glamourösem Auftreten und seinem Politikstil stehen. Auch der amtierende US-Präsident Donald Trump wird immer wieder der Hochstapelei bezichtigt, wofür ebenfalls weniger das Vorgeben einer falschen Identität als sein Auftreten und der rasche Wechsel seiner Ansichten verantwortlich sein dürften. Was macht also einen Hochstapler aus? Neben dem Vorspiegeln von Tatsachen und der Usurpation einer falschen Identität seien, so Meumann, offensichtlich auch das Flamboyante und das Unechte konstitutiv für die Klassifizierung als Hochstapler.
Im Folgenden schlug Meumann vor, das historische Phänomen analog zum Tagungstitel anhand von drei verschiedenen historischen Kategorien von Hochstaplern zu operationalisieren. Erstens diejenigen, die als falsche Prinzessinnen, Prinzen und Adlige einfach einen höheren Stand vortäuschten. Zweitens Scharlatane, die vorgaben, über besonderes Wissen zu verfügen, und daher oft und gerne in der Rolle von Ärzten, aber in der Frühen Neuzeit auch als Magier oder Alchemisten auftraten. Drittens schließlich die selbsternannten Experten, die, etwa als Reisende in einem exotischen Kontext, sich dadurch auszeichneten, vorgegebenes Wissen als ihr eigenes zu deklarieren, und insofern als die „moderne“ Variante des Scharlatans erscheinen.
Iris Schröder betonte im Anschluss daran, dass Hochstapelei in immer neue, sich verändernde Narrative eingebunden war. Weitere Merkmale der Hochstapelei seien die damit verbundene Mobilität der Akteure und die Einbindung des Hochstapelns in alltägliche Wissenspraktiken, wobei die Akzeptanz dieser Praktiken auf beiden Seiten vorhanden sein musste. Entscheidend für die Hochstapelei sei nicht, was jemand wirklich tue, sondern das, was er zu tun behaupte und was ihm geglaubt werde.
Sektion 1: Hochstapelei als soziale, politische und intellektuelle Praxis in der frühen Neuzeit
Marie Ryantová: Der Exulant Georg Holík: Dominikaner, Konvertit, Prediger, Gärtner – und auch Hochstapler?
Vor der Folie der konfessionellen Spaltungen des 17. Jahrhunderts stellte Marie Ryantová die intellektuelle Biographie des gelehrten Konvertiten und Predigers Georg Holík dar. Hineingeboren in eine nichtkatholische Familie und nach dem Dreißigjährigen Krieg zwangsweise rekatholisiert, war Holík als junger Dominikanermönch zunächst in Brünn und Pilsen tätig, bevor er 1665 wiederum konvertierte und nach Zittau auswanderte, wo man ihn anfangs wegen seiner katholischen Vergangenheit für einen Spitzel hielt. Schließlich landete er 1669 wie viele Exilanten aus der Lausitz in Magdeburg und wurde Prediger im Ort Barby. Zu dieser Zeit veröffentlichte er in Wittenberg sein Werk Fünffacher Geistlicher Spiegel, das vielen Lutheranern als zu katholisch erschien. Nach Konflikten mit dem sächsischen Herzog reiste er mit seiner Familie nach Schweden. Dort veröffentlichte er 1672 die von Johannes Scheffer ins Schwedische übersetzte Schrift Behmisk klage-grảt. 1673 brachte Holik die beiden Schriften Blutige Thränen des hochbedrängten Böhmerlands und Päbstliche Geißel heraus, die beide verfolgte böhmische Protestanten als Märtyrer stilisierten. Die 1680er Jahre markierten eine weitere abrupte Wende in Holíks Biographie. Er zog ein weiteres Mal um, nach Ostpreußen, und residierte erst in Königsberg und später in Riga. Hier widmete er sich der Gärtnertätigkeit und gab 1684 sein erstes wichtiges Werk zum Gartenbau heraus. Es folgten weitere Schriften zum gleichen Gegenstand, die das ganze 18. Jahrhundert hindurch immer wieder neu aufgelegt wurden. Holíks Lebenslauf wirft zahlreiche Fragen auf. Neben der Frage nach der Rolle seines „Unterwegsseins“ für sein Werk spielte in der Diskussion Holíks unvermittelte Wandlung zum Autor von Gartenbüchern eine Rolle. Dabei waren finanzielle Aspekte nicht zu unterschätzen.
Reinhard Markner: Ein paar Tröpflein aus dem Brunnen der Wahrheit (1781). Eine Schrift gegen Cagliostro und ihre Autoren
Reinhard Markners Vortrag beschäftigte sich mit der 1781 anonym und am Publikationsort „Am Vorgebirge“ erschienenen Schrift Ein paar Tröpflein aus dem Brunnen der Wahrheit, die einen Angriff auf die Figur des Cagliostro, Scharlatan und gleichzeitig hochrangiges Mitglied der Freimaurer, in Briefform enthielt. Dass es sich bei dem anonymen Autor dieser Schrift um den Braunschweiger Freimaurer Johann Joachim Christoph Bode handelte, ist einer Schrift der Adligen Elisa von der Recke (1754-1833) zu entnehmen, die darin Bodes Angriff auf Cagliostro guthieß. Bode distanzierte sich anfangs nicht von dieser Zuschreibung und bestätigte seine Autorschaft später in einem Brief an Friedrich Nicolai. Die weitere zentrale Figur im Zusammenhang mit dem Text war Ernst Traugott von Kortum (1742-1811). Kortum hatte Bode bereits in Wolfenbüttel getroffen, bevor dieser seinen Text veröffentlicht hatte, und die weitreichenden Beobachtungen von Cagliostros Wundertaten auf dessen Reisen durch Europa von Warschau bis Straßburg stammten hauptsächlich von ihm. Dies sowie die Tatsache, dass Kortum Bode dazu ermächtigt hatte, den Text herauszugeben, wenn auch anonym, ist aus den Korrespondenzen der beiden zu rekonstruieren. Kortum war des Weiteren davon überzeugt, dass sich hinter Cagliostro der Freimaurer Gottlieb Franz von Gugumos verbarg, konnte das aber nicht beweisen. Bode und Kortum ging es bei der Aufdeckung von Cagliostros wahrer Identität jedoch mehr um seine Mitgliedschaft bei den Freimaurern als um eine Anklage seiner Scharlatanerie an sich. In der anschließenden Diskussion kam zur Sprache, dass die Freimaurer Cagliostro entlarven wollten, weil sie schon vorher ähnliche Vorfälle erlebt hatten, die in ihren Augen die Freimaurerei beschmutzt hatten. Weitere Fragen richteten sich an die wahre Identität und Intention Cagliostros, über den übrigens auch Goethe schrieb. Cagliostro war in Wirklichkeit ein Sizilianer und sein Name war nicht frei erfunden, sondern von einem Onkel übernommen worden.
Pablo Toribio: Radical receptions of forgery: Martin Seidel, Annio da Viterbo and the last descendant of David
Im nächsten Vortrag sprach Pablo Toribio über den Heidelberger Theologen Martin Seidel und dessen Werk Origo et fundamenta religionis christianae. Seidel, der u. a. mit dem berühmten italienischen Anti-Trinitarier Fausto Sozzini korrespondierte, stellte darin seinen heterodoxen Standpunkt zur Korruption des Christentums nach frühchristlicher Zeit dar. Darüber hinaus zeigte Seidel Christus lediglich als moralische, nicht göttliche Instanz. Toribio war daran interessiert, ob Seidels Text eine Fälschung aus dem 18. Jahrhundert sein könnte, widerlegte diese Annahme jedoch durch einen Brief von Martin Seidel, der seine theologische Prägung auf den mosaischen Dekalog zurückführte. Dass Seidel dem Christentum trotzdem Betrug vorwarf, ließ sich zurückführen auf seine Zweifel an dem Argument, dass Christus ein direkter Nachfahre König Davids war. Das Problem dabei war, dass die einzige belastbare Quelle zu dieser Frage keine antike war, sondern Annius von Viterbos Auctores vetustissimi sive Commentarii super auctores de antiquitate loquentibus von 1498. Dass Annius’ Text auf Fälschungen antiker Quellen beruhte, war bereits seit Anfang des 16. Jahrhunderts klar, trotzdem wurden seine „Antiquitäten“ weiter benutzt. Einer der antiken Autoren, die von Annius gefälscht worden waren, war Philo von Alexandria. In der Interpretation von Annius war bei Philo die genealogische Linie von David über die alttestamentarischen Figuren Zorobabel und Jannaeus bis hin zu Maria gezogen worden. Es scheint, dass Seidel diesen Irrtum übernehmen musste, da es zu dieser Frage keine anderen antiken Quellen gab.
Die Fragen bezogen sich auf das Umfeld der französischen Könige, die ihre Genealogie auch gerne bis zu König David zurückverfolgten. Weiterhin wurde die Rezeption von Seidels Werk thematisiert.
Bernhard Schirg: Convenient Discoveries – Forgeries of Manuscripts and Artifacts in the Service of the Swedish Empire (1650-1720)
Bernhard Schirg besprach in seinem Vortrag die Konstruktion der schwedischen Frühgeschichte im Kontext nationaler Identitätsbildung. Ausgehend von Olof Rudbecks Atlantica (4 Bände: 1679-1702) wurde Schweden in dieser Tradition als antike Großmacht dargestellt. Rudbeck wollte mythologische Texte durch empirische Untersuchungen bestärken, wozu er materielle Quellen der schwedischen Antike wie astrologische Runenkalender oder Runensteine heranzog. Rudbeck interpretierte Zeichnungen eines heidnischen Tempels in Uppsala als Vorbild für klassische griechische Tempelbauten wie auch für den Tempel Salomos. In dieser „Tempeldebatte“ stützte er sich auf die schwedische „Silberbibel“ und darin auf die Stelle bei Johannes, an der der Tempel Salomos beschrieben wird. In seiner Lesart zog er eine Verbindung von dem Ortsnamen Uppsala und seiner linguistischen Herleitung von Up und Sal, was „offener Platz“ bedeutet, zu den Tempelzeichnungen. 1690 kam die Saga Hjalmar och Ramers heraus, welche auch im Konflikt Schwedens mit Dänemark um Island instrumentalisiert wurde. Während der 1690er Jahre gab es mehrere Editionen dieses Werks, wobei eine Ausgabe von Lucas Halpap als Fälschung enttarnt wurde. Solche Fälschungen florierten im späten 17. Jahrhundert um das nationale Narrativ zu unterstreichen. Beispiel dafür ist eine Alabastervase mit Inschrift (Stockholm History Museum). Diese Vase, die als Teil einer antiken Festmahlkultur dargestellt wurde entpuppte sich jedoch als Fälschung. Die Inschrift darauf war modifiziert worden und die Vase selbst stammte aus dem 16. Jahrhundert und war als Kriegsbeute aus Italien nach Schweden verbracht worden. Auch antiquarische Beweismittel konnten also gefälscht werden. In der Diskussionsrunde spielte u. a. das Titelblatt von Rudbecks Atlantica eine besondere Rolle. Darauf zu sehen ist ein Anatom, der anstatt eines menschlichen Körpers eine Weltkugel seziert.
(ke, rh)
Sektion 2: Fremde Potentaten oder betrügerische Bettler? Exotische Hochstapler in der Frühen Neuzeit
Stefano Saracino: Griechisch-orthodoxe Almosenfahrer aus dem osmanischen Reich im Heiligen Römischen Reich (1660-1740). Wissensquellen, Wohltäter, Betrüger
Anhand der Schrift von J.M. Heineccius Eigentliche und wahrhafftige Abbildung der alten und neuen griechischen Kirche (1711) machte Stefano Saracino eine dreifache Beschreibung griechischer Almosenfahrer aus dem osmanischen Reich sichtbar. Anhand verschiedener Beispiele konnte er aufzeigen, dass diese entweder als Wohltäter, Wissensvermittler oder Hochstapler, welche die Grenzen des Moralischen hinter sich ließen, beschrieben wurden. Eine wichtige Quelle für diese Untersuchungen stellen Paßanträge der Reisenden dar. Diese waren oft direkt von orthodoxen Patriarchen oder Klöstern ausgesandt worden. Oft wendeten sie sich an Fürsten, um von diesen Geld oder Geschenke zu akquirieren, manchmal sogar im Austausch gegen historische Dokumente. Jakob Elßners Neueste Beschreibung derer Griechischen Christen in der Türckey, aus glaubwürdiger Erzehlung Herrn Athanasius Dorostamus (1737) ist eine weitere Quelle zum Thema. Schilderungen wie diese berichteten nach Art eines „Sendschreibens“ an die europäischen protestantischen Kirchen in übertriebener Art und Weise von der Unterdrückung der orthodoxen Christen im osmanischen Reich. Almosenreisende waren meist keine gelehrten Personen, dennoch konnten sie oft zur Wissensvermittlung beitragen. In manchen Fällen wurden sie gar als „lebende Wörterbücher“ betrachtet und systematisch zu bestimmten theologischen Begriffen befragt. Ein Beispiel für diese Praxis ist das Werk des Gothaers J. H. Stuss Observationes selectas de ecclesiae grecae sub imperio turcico, das auf Ähnlichkeiten zwischen orthodoxen und protestantischen Christen abzielte. Zum Anderen besaßen griechische Almosenfahrer aber oft den Nimbus des Hochstaplers. Als Beispiel dafür nannte Saracino einen Artikel aus Wilhelm Ernst Tentzels Monatlichen Unterredungen (1693) über den Besuch des Archimandriten Metrophanes Tzitzilianos am Gothaer Hof. Tentzel schilderte diesen darin als unbeständigen Zeitgenossen, der sowohl Lutheranern als auch Reformierten nach dem Mund redete. In der Diskussion kam die Rolle der interkulturellen Missverständnisse und des Vertrauens in den Gesprächssituationen zur Sprache.
Tobias Mörike: Der Prinz vom Berg Libanon – Die Reise des Spaada Habaisci (1725-1728) als Wissensgeschichte einer Höflichkeitslüge
Passend zum Tagungsort spielte auch im Vortrag von Tobias Mörike über den Prinzen vom Berg Libanon eine Begegnung am Gothaer Hof eine zentrale Rolle. Vom 11.-15. Februar 1725 hielt sich der Spaada Habaisci in Gotha auf. Dieser Aufenthalt war Teil einer Reise des Prinzen durch ganz Europa. Habaisci selber hinterließ von dieser Reise keine Selbstzeugnisse, Mörike konnte jedoch verschiedene Spuren rekonstruieren. Darunter Beglaubigungsschreiben aus Rom und Wien, die Habaiscis wahre Herkunft bestätigten sowie eine Gothaer Quelle, in der erwähnt wurde, dass Habaisci während seines Aufenthaltes dort von dem Maler Schildbach porträtiert wurde. Das Porträt war jedoch seit 1733 verschollen. Es steht wohl außer Frage, dass der Spaada Habaisci ein echter Prinz war, worauf seine weit ausgereiften Sprachkenntnisse und die hohe theologische Bildung hinweisen. Jedoch sind die Gründe für seine Reise schwer zu enthüllen. Habaisci war zu seiner Zeit ein reisender Prinz unter vielen, wobei diese oft aus derselben maronitischen Familie im Libanon stammten. Davon zeugen verschiedene Ortsregister von Mühlhausen in Thüringen bis London. Seit 1753 jedoch wurden derlei Reisen v. a. in Frankreich, aber auch in verschiedenen deutschen Ländern immer stärker sanktioniert und beschränkt. Mörike stellte die Rolle der reisenden Prinzen als Wissensvermittler in den Vordergrund. Manche von ihnen wurden auch bei Hofe als Münz- und Sprachexperten zur Sammlungspflege oder Entzifferung arabischer Dichtkunst hinzugezogen. In der anschließenden Diskussion wurde auf den Organisationsgrad und die Netzwerkstrukturen der libanesischen Prinzen eingegangen.
(ke, rh)
Lionel Laborie, Olaf Simons: The ressourceful Count de Linange: King of Madagaskar, Grand Admiral of the Theocracy and global trading strategist
Zuletzt sprachen Olaf Simons und Lionel Laborie über zwei Personen, die Betrügerei mit radikal religiös-politischen Projekten verbanden. Einer davon, Philippe de Gentil, Marquis de Langallerie war hoher Militär in französischen Diensten, der jedoch 1706 während des Spanischen Erbfolgekrieges nach Korruptionsvorwürfen in habsburgische und wenig später sächsische Dienste wechselte. Kurz wurde er in den Wirren des großen Nordischen Krieges Gouverneur von Litauen, bevor ihn erneut Korruptionsvorwürfe einholten. Dramatischer Wendepunkt seiner Karriere wurde ein Versuch, in Kassel am Hof Unterstützung zu gewinnen. Langalleries zweite, erheblich jüngere Frau wurde die Mätresse des Landgrafen, während Langallerie sich auf ein religiöses Projekt ausrichtete: Europas an die Endzeit glaubende Kreise unter Juden und Protestanten zusammenzuziehen und den Papst zu stürzen. Ein Hochstapler namens Mustafa Aga, ein Mann, der sich als der zum Christentum konvertierte Bruder des türkischen Sultans vorstellte, bestärkte Langallerie und begab sich mit ihm auf den Weg nach Amsterdam, wo es allerdings bald zum Bruch beider kam. Doch nahm nun ein weit interessanterer Mann die Position Mustafa Agas ein, der sich bald als Langalleries Neffe ausgab: Ein angeblicher Prince de Linange (Leiningen). Beide gründeten eine Organisation, die – halb religiöser Orden, halb Aktiengesellschaft – den nun präzisierten Plan verfolgte, Madagaskar zum Standort einer Handelskompanie zu machen, die der holländischen Ostindienkompanie Konkurrenz machen würde, und mit einer Flotte und einer Armee den Papst in Rom zu stürzen. Für den Plan ließ sich im Dezember 1715 endlich das Ottomanische Reich gewinnen. Der in den Niederlanden weilende Botschafter unterzeichnete mit den mittlerweile drei Häuptern der sogenannten Theokratie den Plan für ein Sechsjahresprojekt, in dem die christlichen Vertragspartner weitgehende Befugnisse erlangen sollten. Langallerie wurde am 15. Juni in Stade, Linange am 30. Juni 1716 in Aurich verhaftet. Aus den Verhörakten konnten zahlreiche Details über das Vorhaben rekonstruiert werden. Im zweiten Teil des Vortrages warf Lionel Laborie neues Licht auf die Herkunft und den Lebenslauf von Linange vor seinem Zusammentreffen mit Langallerie in Amsterdam. Linanges akkumulierte Titel – er trat unter anderem als Ernest, Duke of Angelpont, Madagaskar, Ophir und Pheros auf – erwiesen sich dabei als ernstzunehmender Schlüssel zu seiner Herkunft. Linange stammte aus einer adeligen katholischen Familie und hatte schon in jungen Jahren Pläne verfolgt, eine hugenottische Teilrepublik in Südfrankreich zu errichten. Laborie stellte neue Quellen zur Familiengeschichte Linanges vor und konnte zeigen, dass sich Linange bei der Konstruktion der eigenen Identität der Familie abhanden gekommener Titel und familieninterner Biographien bediente. In der Diskussion wurde die Frage nach dem Größenwahn der beiden Protagonisten gestellt, der sich zum einen durch eine Logik der Hochstapelei, zum anderen aber auch durch millenaristische Denkweisen erklären lässt.
(ke, rh, os)
12.7.2017
Sektion 3: Falsche Forscher, selbsternannte Entdecker und Scharlatane im 19. und 20. Jahrhundert
Michael Pesek: Unter Verdacht. Das Verhältnis von Geografen und Forschungsreisenden im 19. Jahrhundert
Die dritte Sektion wandte sich der Aufdeckung von falschen Forschern, selbsternannten Entdeckern und Scharlatanen im 19. und 20. Jahrhundert zu. Michael Pesek referierte über das Verhältnis von Geografen und Forschungsreisenden im 19. Jahrhundert. Ausgehend von einem 1885 erschienenen Leserbrief in Petermanns Geografischen Mitteilungen, in dem Gottlob Krause aus Tripoli die Echtheit eines dort abgedruckten Reiseberichtes durch Nordafrika bezweifelte, fragte Pesek nach Möglichkeiten der Hochstapelei in Zeiten der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Geographie. Er stellte anhand von Krauses Nachforschungen dar, welche Argumente dieser verwendete, um die Echtheit des Berichtes in Frage zu stellen. Expeditionen stellten die wichtigste Form geografischer Wissensproduktion dar, die immer stärker von der Empirie und dem Verständnis der Geographie als Wissenschaft geprägt waren. Forschungsreisende wurden in geographischen Zeitschriften, besonders in Petermanns Geographischen Mitteilungen, „sensationalisiert“ und konnten zu Vermögen kommen, was wiederholt Hochstapler anzog. Doch auch die Praxis wissenschaftlicher Erschließung europäischer Expeditionsreisender war, so Pesek, immer auch mit Spekulationen und waghalsigen Einschätzungen verbunden. Jenseits der bereisten Routen griffen die Expediteure auf lokales Wissen zurück, das schwierig nachprüfbar, unsicher und somit offen für Hochstapeleien war. Eine Disziplinierung der Forschungsreisenden setzte Anfang des 19. Jahrhunderts mit Reiseratgebern ein und ging in ein neues System aus Vorbereitungskursen, wissenschaftlichen Diskursen und der Etablierung von Universitätsfächern über, sodass es ab 1890 immer schwerer wurde, Reisen und deren Ergebnisse vorzutäuschen.
Ines Eben von Racknitz: Die Erforschung der Erde in der Hochstapelei: Phantasiebericht und Wissenschaftlichkeit am Beispiel des Theodor Mundt-Lauff
Am Beispiel eines Fundes im Perthes-Archiv Gotha fragte Ines Eben von Racknitz, welche Strategien die neu entstehende akademische community des 19. Jahrhunderts verwendete, um Hochstapelei zu entlarven. Ernst Behm, wichtiger Mitarbeiter des Perthes-Verlags für Petermanns Geographische Mitteilungen, bezweifelte 1879 die Authentizität eines zur Veröffentlichung eingesandten Reiseberichtes von Theodor Mundt-Lauff über Vulkan- und Inselbeschreibungen der Philippinen. Das Genre des Reiseberichtes erfuhr zu dieser Zeit, so Eben von Racknitz, eine schärfere Trennung zwischen Unterhaltung und Wissenschaftlichkeit. Mit der Ausdifferenzierung der universitären Disziplinen wie Geographie und Geologie war für unterhaltende Elemente kein Platz mehr; stattdessen wurden Experten nur noch dann anerkannt, wenn sie eine spezifische Ausbildung genossen hatten und sich aus Netzwerken wie Staats- und Militärdiensten sowie geografischen Forschungsgesellschaften rekrutierten. Sie entwickelten Methoden, um Wissen exklusiv zu erhalten. So schrieb Ernst Behm ihm bekannte Berliner Philippinenforscher an und fand seinen Verdacht bestätigt. Auf Grundlage dieser peer review lehnte Behm schließlich eine Veröffentlichung ab. Eine selbsternannte Expertise wie die von Mundt-Lauff ließ sich durch die neuen akademischen Standards und mittels der untereinander bestehenden Informationsnetzwerke und der zahlreichen Dokumentationen schnell entlarven.
Brice Kouakap Ndjeutcham: Vom Christentum zur Hochstapelei: Falsche Pfarrer und Propheten in Afrika im 20. Jahrhundert. Der Fall Kamerun
Brice Kouakap Ndjeutcham verhandelte anhand der heutigen Pfingstkirchenbewegung in Kamerun die Fragen, wie Täuschung von Pfingstkirchen eingesetzt wird und wie die kamerunische Gesellschaft auf Hochstapelei reagiert. Dafür analysierte er diskursanalytisch zwei Dokumentationen über selbsternannte Pfarrer und Propheten in der Bewegung. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Kamerun sind Anhänger der Pfingstkirchen. Oftmals waren die Mitglieder zuvor in der traditionellen Kirche aktiv, wandten sich jedoch aus Gründen wie Arbeitslosigkeit und Krankheit der Bewegung zu. Verbreitet ist der Glaube an Übernatürlichkeit; Unglück wird als Ergebnis böser Geister gedeutet und Heil versprochen, wobei die Wunder nicht immer eintreten würden. Erscheinungsformen der Hochstapelei wie Betrug, Einmischung in die Angelegenheiten der Christen, finanzieller Druck auf die Mitglieder und die Selbsternennung zu Pfarrer, Prophet und Doktor ohne jede Ausbildung lösten dabei unterschiedliche Reaktionen aus: Die Mitglieder der Bewegung nähmen den Wohlstand ihrer „Propheten“ nicht als Hinweis auf Korruption und Machtmissbrauch wahr, sondern sähen darin eine Bestätigung der Kraft Gottes und der eigenen Hoffnung nach einem besseren Leben. Kritiker betrachteten die Protagonisten dagegen als Geschäftsleute und Diebe; die Regierung schließe gelegentlich in Reaktion auf Vorfälle einzelne Kirchen. Dennoch gebe es innerhalb der Bewegung auch „gute“ Pfingstkirchen, echte Pfarrer und ehrliche Propheten.
(vb)
Sektion 4: Hochstapelei in Literatur und Theorie
Tilman Venzl: (K)ein militärischer Hochstapler! Zu Carl Zuckmayers Hauptmann von Köpenick
In der letzten Sektion zum Thema „Hochstapelei in Literatur und Theorie“ referierte Tilman Venzl anhand von Carl Zuckmayers 1931 erschienenem Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ über die Deutung der Hochstapelei in militärischer Uniform. Die tatsächliche Begebenheit des Hauptmanns von Köpenick in Zeiten einer „Hochstaplermanie“ nahm Zuckmayer lediglich zum Anlass, um das „wunderliche Schicksal eines armen Teufels“ im Kaiserreich zu erzählen. Als zweiten Protagonisten des Stücks machte Venzl die Uniform aus, die vermenschlicht dargestellt wurde. Venzl ging der Frage nach, welche Rolle der viel diskutierte preußische Militarismus in dem Stück spielt, das häufig als militarismuskritisch aufgefasst wird. Anders als es der Forschungsbegriff des Militarismus nahelegen würde, stelle dieser im Werk keine Gewaltinstitution dar, sondern wird als integraler, wichtiger Bestandteil der Gesellschaft gezeigt. Dicht an Zuckmayers Biographie bleibend, nach deren Aussage er das Stück auch unter dem Eindruck des Erstarkens der nationalsozialistischen Bewegung schrieb, sieht Venzl in dem Werk keine Satire auf den preußischen Militarismus, sondern identifiziert einen Folkloremilitarismus, der die kriegerische Zweckbestimmung in der Zivilgesellschaft ausblendete. Daher verneinte Venzl auch die Frage, ob das Stück politisch sei. Zuckmayer gehe es vielmehr um den Versuch, das immanent Politische im Menschlichen zu zeigen und die Suche eines Menschen, nicht eines Straftäters, nach seinem Platz in der Gesellschaft zu verfolgen.
Iveta Leitane: Semiotischen Modelle der Hochstapelei aus der Sicht der Tartu-Schule
Iveta Leitane erprobte in ihrem Vortrag, wie sich die Kultursemiotik der Tartu Schule, die sich Ende des vergangenen Jahrhunderts im Umkreis Juri Lotmans formierte, für eine Konzeptualisierung des Phänomens der „Hochstapelei“ fruchtbar machen ließe. Zu den Herausforderungen gehört dabei, dass hier ein Begriff der westeuropäischen Sprachen kein direktes Pendent im Russischen und anderen slawischen Sprachen aufweist. Die Mitglieder des Kreises publizierten jedoch zu vergleichbaren Phänomenen. Leitanes Blick fiel hier auf Überlegungen zum Kartenspiel und zum „samozvancestvo“, dem Wahlverfahren des zaristischen Russlands, das Anfang des 16. Jahrhunderts, in den Wirren um die drei Pseudodimitri – von Polen in einem Akt der Hochstapelei lancierte „falsche“ Thronerben –, Anwendung fand.
Leitanes Überlegungen galten zentral der Frage nach der Struktur, die Vergleichsfälle in der Modellbildung aufweisen müssten. Das gelingende Modell müsse im komplexeren Raum konstelliert werden, so das methodologische Diktum. Im Anschluss daran sprach Leitane das Phänomen der Hochstapelei als eine systemimmanente Möglichkeit der Unbestimmtheit an, die, so ihre Forschungsdiagnose, insbesondere in Umbruchszeiten eine hohe Relevanz aufweise – eine Diagnose, die sie zurückband an die Situation der Tartu-Schule selbst, die mitten im Systemzusammenbruch des sowjetischen Kommunismus ihre Erwägungen zu umfassenden Bedeutungssystemen anstellte.
(vb, os)
Verfasser: ft = Franziska Turre, ke = Kirsten Eppler, os = Olaf Simons, rh = Robert Heindl, vb = Verena Bunkus
Featured Image: Zeitgenössische Karikatur Guido Bennati mit den zwei Schädeln Alahualpas – einmal als Kind und einmal als Erwachsener (1883)