Von Martin Mulsow
Ich schreibe ein Kapitel über Schlafpelze und komme mir vor, als hätte ich selber einen an. Immer nur in den eigenen vier Wänden, kaum vor die Tür kommen. Ein Schlafpelz ist eine Art Bademantel, oder besser: ein Morgenrock, etwas, das man sich überwirft, um sich gar nicht erst groß anziehen zu müssen. Aber wie ein Morgenmantel durchaus schick sein kann, konnte auch ein Schlafpelz prächtig daherkommen.
Im Sommer 1713 kam es in Leipzig zu einem seltsamen Studentenprotest. Hunderte von Studenten zogen durch die Straßen, lange Tabakpfeifen rauchend und bekleidet nur mit Schlafpelzen und Nachtmützen. Eine Demonstration der Informalität, so wie man sich 1968 mit langen Haaren gegen das Establishment gewehrt hat. Nur eines war diesmal anders: Das Privileg der Informalität hatten sich zuvor schon die Adeligen und die Professoren herausgenommen. Sie hatten damit angefangen, à la mode nicht nur zuhause, sondern auch draußen im Schlafpelz herumzuspazieren – natürlich im Schlafpelz des neuesten Chic. Das wollten jetzt auch die Studenten tun dürfen. Doch das Establishment schlug zurück: Es hatte Angst, hier würden Standesgrenzen leichtfertig übersprungen, daher wurde den Studenten das öffentliche Schlafpelztragen verboten.
Wie ich auf das seltsame Thema komme? Durch das Studium von Gothaer Gelehrten um 1700. Als der Reisende Gottlieb Stolle in Gotha zu Besuch war, ging er auch bei Hofrat Pfanner zuhause vorbei. Und staunte nicht schlecht: „Er zoge stihlecht auf in seinem Schlafpeltze, in dem darunter ein trefflich gepichter Brustlatz hervor blickte, um den Hals hatte er ein grau und weiß Tüchel, davon ein Ende in orient, das andre in occident stunde.“ Eine nette Formulierung: ein Ende in orient, das andre in occident. Ein Ende des Halstuchs zeigt nach Osten, das andere nach Westen. Man kann das sogar an Pfanners offiziellem Porträt nachprüfen, denn auch dort hat er sein Lieblings-Halstuch an, wenn auch nicht mit Morgenmantel, sondern im schicken Überwurf seines Justaucorps.
Pfanner hielt sich am liebsten zu Hause auf, im Home Office sozusagen, er hasste es, bei Hofe zu sein und vermied es um jeden Preis, dem Herzog seine Aufwartung machen zu müssen. Einmal sagte er ab unter dem Vorwand, er habe so lange als Amtmann in Saalfeld gelebt, dass seine Blödigkeit ihm eine Audienz am Hof unmöglich mache. Blödigkeit hieß damals etwas anderes als heute. Es meinte die Schwäche, Scheu und Unbeholfenheit im Umgang mit anderen, also auch die Untauglichkeit zu höfischem Verhalten.
Der Philosoph und Aufklärer Denis Diderot hat dem Schlafrock übrigens einen bezaubernden Essay gewidmet: Regrets sur ma vieille robe de chambre ou avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune. Dort beklagt er den Verlust seines verschlissenen, ihm aber lieb gewordenen alten Hausrocks, der jetzt durch eine scharlachrote Robe ersetzt worden war. Für ihn war das ein Symbol des korrumpierenden Luxus, der sich überall anstelle der bewährten Dinge drängt und seine eigenen Zwänge entfaltet.
Man kann dem Schlafpelz also, wenn man möchte, einiges an Reflexionskraft abgewinnen, kann ihn zum Mittelpunkt eines Denkbildes machen, wie Walter Benjamin es sich vorstellt: wenn aus den Dingen ein Schein auf die Welt geworfen wird, in der sie benutzt werden, auf die Zeit, die sie hochschätzt, auf den Umgang, der sich mit ihnen vollzieht. Ich denke mir: Es wäre schön, wenn wir in Gotha einmal die Leipziger Schlafpelzdemonstration nachstellen, so wie wir die Illuminatenversammlung nachgestellt haben.
Damals war es leicht, beim Kostümverleih stilechte Gamaschen und Oberröcke und Dreispitze zu bekommen. Aber finden wir dort auch Schlafpelze des 18. Jahrhunderts? Die Chancen stehen eher schlecht: Bewahrenswert und reproduktionsfähig ist die offizielle Kultur, nicht die inoffizielle von Morgenmantel und Zipfelmütze. Was kann uns das sagen? Gilt das auch für die Geistesgeschichte der Informalität? Was ist die Zipfelmütze der Philosophie, was der Schlafpelz der Geschichtsschreibung? Vielleicht die liegengelassenen Zettel der Entwürfe, die unschönen und unfertigen Formulierungen, die nicht gedruckten Pamphlete. Blödigkeit im Schlafpelz: Das konnte aber auch, offensiv gewendet, eine „Privatpolitik“ in der einsamen Reflexion am Rande der Melancholie sein, wie Georg Stanitzek das beschrieben hat.
So war es auch bei Pfanner: War er mit seiner Archivarbeit fertig, bei der er historisch-juristische Gutachten für seinen Herrn schreiben musste, zog er sich seinen Schlafrock an und war auf einmal in ganz anderen Welten, Welten der Liturgie des frühen Christentums, für die sein Herz eigentlich schlug. Abends im Schlafrock verfasste er lange Werke über Bußriten, Weihegeschenke und Salbungen. Waren das selbst Denkbilder, um die höfische Gegenwart zu exorzieren? Man muss an Machiavelli in seiner Verbannung denken, gefangen im Bergdorf, mit Ausgangssperre: Abends zog er sich eine Art Toga über und tauchte ein in die klassische Welt der Antike.
Ich schreibe über Schlafpelze in der Corona-Krise und komme mir vor, als hätte ich selbst einen an.