Von Thomas Schader
Das Portrait zeigt einen jungen Jesuitenmissionar. Ein großes Kruzifix ziert seine Brust. Die rechte Hand hält einen Pilgerstab, die linke weist auf die Szenerie, die sich hinter ihm abspielt. Dort ist eine spanische Galeone zu sehen, die gerade ihren Anker lichtet, um in die „Neue Welt“ zu segeln. Sanftmütig wirkt der junge Missionar. Mit Demut scheint er das Geschehen im Hintergrund zur Kenntnis zu nehmen. Nichts lässt erahnen, dass für Pater Philipp Anton Segesser (1689-1762) das lange Warten auf die Reise nach Übersee zu einem „feckfeür“ [Fegefeuer] wurde.
Ungeduld prägt unseren Alltag in der aktuellen Covid-19-Krise. Gewissheiten geraten ins Wanken, voller Sorge blicken viele Menschen in die Zukunft. Angesichts der derzeitigen Herausforderungen frage ich mich, ob ich von den Jesuiten in der Warteschleife (1660-1760), mit denen ich mich im Rahmen meiner Dissertation beschäftige, eigentlich etwas lernen kann. Zugegeben, historische Vergleiche sind grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Dennoch möchte ich einen Versuch wagen.
Die Reise der Jesuitenmissionare in die „Neue Welt“ war eine Unternehmung voller Risiken, Unwägbarkeiten und Verzögerungen. Der Weg nach Übersee führte die zentraleuropäischen Jesuitenmissionare zunächst nach Spanien. In den andalusischen Hafenstädten Sevilla, Cádiz oder El Puerto de Santa María mussten sie oft längere Zeit warten, bis sie ihre Reise über den Atlantik fortsetzen konnten. Einmal jährlich liefen die königlichen Flotten in die überseeischen Provinzen aus, doch konnten sich die Abfahrtstermine aufgrund von Verspätungen, Unwettern oder politischen Spannungen um Jahre hinauszögern. Einige Missionare waren gezwungen, bis zu fünf Jahre auf eine Überfahrt zu warten. Spanien konnte dementspechend zu einem großen Warteraum werden. Was tun in dieser ungewissen Zeit? In meiner Forschungsarbeit interessiere ich mich für die Praktiken der zeitlichen Kontingenzbewältigung, das heißt ich untersuche die Handlungs- und Deutungsmuster der wartenden Jesuiten im Umgang mit der Wartezeit in Spanien. Hierfür habe ich bisher circa 250 Selbstzeugnisse, vorrangig Briefe und Reiseberichte, ausgewertet. Angesichts der aktuellen Situation gewinnen die Fragen, die ich an meine Quellen richte, in überraschender Weise an Gegenwartsrelevanz.
Wie auch wir in der aktuellen Situation unseren gewohnten Alltag nicht fortführen können, uns den sich ständig ändernden Maßnahmen anpassen und neue Wege suchen müssen, eine gewisse Routine zu etablieren, standen auch die Missionare in Spanien vor der Herausforderung, ihrem Alltag Struktur zu verleihen. Nach der Ankunft in Spanien wurden sie auf die verschiedenen Kollegien der Ordensprovinz Baetica verteilt und weitestgehend in die Ordensgemeinschaften integriert. Die meisten Missionare nutzten die Zeit, um die spanische Sprache zu lernen und sich durch Lektüre und handwerkliche Tätigkeiten auf die Mission vorzubereiten. Den Alltag weitestgehend selbst zu organisieren, gelang jedoch nicht allen. Viele wurden bereits nach wenigen Monaten ungeduldig, klagten über fehlende Abwechslung und die „leere Zeit“ des Wartens. Erschwerend kam hinzu, dass in den Hafenstädten ständig Gerüchte über mögliche Abfahrtstermine zirkulierten, die sich oftmals als reine „mährlein“ entpuppten und Hoffnungen der Missionare immer wieder zunichte machten.
Pater Anton Sepp (1683-?) tat sich besonders schwer, Geduld aufzubringen. Der Tiroler Missionar befand sich ab 1726 in Spanien und wartete auf seine Überfahrt nach Paraguay. Nach einem Jahr wandte er sich an den Assistenten der deutschen Provinz und beklagte sich über die Zustände in Spanien. Sepp erhielt die Antwort, er möge sich bitte in Geduld üben und die Abfahrt im kommenden Jahr abwarten. In der Zwischenzeit solle er die Ordensleitung darüber informieren, wie seine bisherige Reise verlaufen sei. Anton Sepp ließ sich jedoch nicht beschwichtigen und wandte sich mit seinen Unmutsbekundungen an den Generalprokurator in Madrid. Dieser setzte wiederum die Ordenskurie über das widerspenstige Verhalten des Tiroler Missionars in Kenntnis. Sepps Ungeduld scheint derart virulent gewesen zu sein, dass er des öfteren die Regeln der vita communis, des jesuitischen Gemeinschaftlebens, missachtete. Über Genaueres schweigen die Quellen leider. Die andalusische Ordensleitung beschloss schließlich, Pater Sepp wieder zurück in die Heimatprovinz zu schicken. Der Traum, als Überseemissionar in die Geschichte des Ordens einzugehen, war geplatzt.
Um nicht in die Mühlen des Müßiggangs zu geraten und dadurch ein ähnliches Schicksal zu erleiden, versuchte Pater Franz Xaver Weiss (1710-1795) die „Hand am Pflug“ zu halten, indem er die für einen Jesuiten gängigen geistlichen wie caritativen Arbeiten auch in Spanien fortführte. In der andalusischen Stadt Jerez de la Frontera betätigte sich der Ingolstädter Missionar zwischen 1741 und 1744 zunächst als Katechet, Beichtvater und Gefangenenseelsorger. Da er des Spanischen recht schnell mächtig war und seine Dienste am Nächsten sehr geschätzt wurden, durfte er bald auf die Kanzel steigen und als Prediger das Wort an die Einwohner von Jerez richten. Dieses Privileg wurde nur wenigen ausländischen Missionskandidaten zuteil, denn das Predigen galt als eine der anspruchsvollsten Tätigkeiten jesuitischer Pastoral. Franz Xaver Weiss hielt zunächst einige Bußpredigten während der Fastenzeit, später durfte er am Festtag des Hl. Nepomuk vor versammelter Klerikerschaft eine Lobrede auf den Heiligen halten. Während die Wartezeit in Spanien in den Erinnerungen der Missionare weitestgehend als belastend und kräftezehrend beschrieben wird, hielt Pater Weiss den Aufenthalt in Spanien in guter Erinnerung. Zwar freute er sich nach dreijährigem Warten, nun endlich den „keffich“ [Käfig] zu verlassen und in die „Freyheit ab[zu]flügen“, doch scheint ihn das Fortführen der pastoralen Arbeit auf dem spanischen „Acker“ wie keinen anderen erfüllt zu haben.
„Die Hand am Pflug halten“ – eine Metapher, die typisch ist für den jesuitischen Tugend- und Geduldsdiskurs. Trotz grundsätzlicher Vorbehalte gegenüber der erbaulichen Rhetorik jesuitischer Selbstzeugnisse muss ich gestehen, dass mich dieses Bild in der momentanen Situation irgendwie anspricht. Ebenso der Pragmatismus und die Beharrlichkeit, welche Franz Xaver Weiss während der drei Jahre des Wartens an den Tag legte.
Für uns Historikerinnen und Historiker am Forschungszentrum Gotha ist die Arbeit auf unserem gewohnten Acker momentan nur begrenzt möglich. Bibliotheken und Archive sind geschlossen oder nur eingeschränkt zugänglich. Einige von uns mussten ihre Forschungsaufenthalte im In- und Ausland abbrechen und sind dadurch gezwungen, ihre Projekte neu auszurichten. Es fehlt am persönlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und an geistig-kreativem Input. Die Gefahr, missmutig und ungeduldig zu werden oder in Müßiggang und Leerlauf zu verfallen, ist groß. Ebenso die eines Lagerkollers. Als Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler sind wir es zwar gewohnt, im stillen Kämmerlein zu sitzen und unserer täglichen Arbeit nachzugehen. Doch für jene, die sich momentan zusätzlich ganztägig um ihre Kinder kümmern müssen, für jene, die keine Rückzugsräume haben oder für jene, deren finanzielle Ressourcen ausgehen, ist die momentane Krise eine enorme psychische Belastung. Die Ungewissheit über die weiteren Entwicklungen der Pandemie, die drohende zweite Welle und die unabsehbare Rückkehr zum gewohnten Forschungsalltag drücken auf die Stimmung. Auf der anderen Seite sieht man, auf welch unterschiedlichen Wegen viele Forschende versuchen, die „Hand am Pflug“ zu halten und ihre Projekte durch diese Krise zu manövrieren. In unserem Nachwuchskolleg „Wissensgeschichte der Neuzeit“ wurden Webex-Arbeitsgruppen und digitale Feedbackrunden ins Leben gerufen. Man trifft sich zu Online-Meetings oder arbeitet im Tandem. Diese kreativen Initiativen zeigen, dass die eigene Forschungsarbeit in dieser ungewissen Zeit ein Rettungsanker sein kann und vor allem, dass die Geschichtswissenschaften sich in der Krise flexibel zeigen und weiter zuverlässig funktionieren.