Die Tagung möchte, auf der Basis der kürzlich analysierten Tagebücher des Grafen und zahlreicher unveröffentlichter Dokumente, den Allianzen, aber auch den Friktionen der unterschiedlichen Spiritualisten und Intellektuellen am Hof nachgehen; insbesondere den Friktionen in den 1730er-Jahren, die durch freigeistigere Separatisten verursacht wurden, denen Bibelfrömmigkeit allein nicht genügte. So hat sich etwa der Mediziner, Alchemist und Radikalpietist Johann Konrad Dippel von 1729 bis zu seinem Tod 1734 in Berleburg aufgehalten, wo er Konflikte mit dem Grafen Zinzendorf wie auch mit seinem Medizinerkollegen Johann Samuel Carl ausfocht; Johann Christian Edelmann war von 1736-1741 in Berleburg und überwarf sich mit den Inspirierten unter Rock, indem er den johanneischen Logos als die Vernunft interpretierte. Die Tagung will die intellektuelle Dynamik herausarbeiten, die diese Friktionen erzeugt haben. Gibt es eine Dialektik von radikalpietistischem Individualismus und Freigeisterei?
Dabei werden auch die Überschneidungen von Disziplinen und deren Praktiken im Fokus stehen, die den Hessischen Radikalpietismus kennzeichnen: von Medizin und Theologie, Alchemie und Frömmigkeit, Pädagogik und Jurisprudenz. Auch traditionelle Geschlechterrollen und Standesgrenzen wurden ja in diesen Kontexten überschritten. Welche Innovationen sind aus diesen Transgressionen hervorgegangen?
Die Dynamiken sind nicht zuletzt auch eine Folge der physischen Mobilität der Akteure. An den nonkonformistischen Intellektuellen und religiösen Suchern lässt sich studieren, wie die Zirkulation von Personen und Informationen zwischen Berleburg und Separatistengemeinden im Umfeld beschaffen war und welche Folgen sie zeitigte. Das schließt die Verbindung der Grafen von Sayn-Wittgenstein-Berleburg mit der Grafschaft Ysenburg-Büdingen ein, Schwarzenauer Neutäufer, die Radikalpietisten in Laasphe, Schloß Hayn, Hirnbach, Saßmannshausen, Homrighausen, Neuwied, Idstein, Frankfurt und Offenbach. Damit wird eine Einordnung der gedanklichen Entwicklungen in die vielfältige und unübersichtliche Gesamtlage im Wittgensteinischen, im Siegerland, im Westerwald und in der Wetterau gegeben – bis hin zu einem Blick auf die transnationalen Verbindungen des Separatismus in die Niederlande, nach Frankreich oder nach Amerika.
Bitte beachten Sie auch den öffentlichen Abendvortrag „Philadelphia in Berleburg. Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Besuch in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg“ am 7. Juli um 18:15 Uhr von Wolfgang Breul (Mainz).
Programm:
Donnerstag, 7. Juli 2022
13:00 Uhr Ulf Lückel (Golmbach): Graf Casimir zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg und die Pietisten. Neue Einsichten und Forschungsperspektiven
14:00 Uhr Xenia von Tippelskirch (Berlin): Graf Casimir zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg
15:00 Uhr Kaffeepause
15:30 Uhr Johannes Burkardt (Detmold): Victor Christoph Tuchtfeld in Berleburg
16:30 Uhr Christoph Reimann (Dortmund): Ludwig Christof Schefer, Wilhelm Abresch und Christoph Seebach: Drei Berleburger Pietisten im Spiegel der Tagebücher Casimirs zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg
17:30 Uhr Kaffeepause
18:00 Uhr | Öffentlicher Abendvortrag Wolfgang Breul (Mainz): Philadelphia in Berleburg. Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Besuch in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg
Anschließend gemeinsames Abendessen
Freitag, 8. Juli 2022
9:00 Uhr Vera Faßhauer (Frankfurt/Gotha): Dippels Berleburger Zeit im Spiegel von Senckenbergs Aufzeichnungen
10:00 Uhr Martin Mulsow (Erfurt/Gotha): Dippels Berleburger Kosmologie
11:00 Uhr Kaffeepause
11:30 Uhr Alexander Kraft (Berlin): Dippels alchemische Experimente in Berleburg
12:30 Mittagspause
13:30 Uhr Daniel Seel (Hornbach): Johann Konrad Dippels Episode in den Niederlanden als Vorgeschichte der Berleburger Zeit mit Blick auf die Toleranzfrage
14:30 Uhr Hermann Stockinger (Wien): Edelmann und der Pietismus im Anschluss an Berleburg: das „Quedlinburgische Nachdenken“
15:30 Uhr Sebastian Türk (Chambéry): Soziale und intellektuelle Dynamiken radikal-pietistischer Epistemologie bei Charles-Hector de Marsay und den Berleburger Erweckten